* 49 *

Als sie überglücklich auf die Galerie zurückkehrten, wurden sie bereits von einem Empfangskomitee erwartet. Zwei große Wächter sprangen vor und packten Nicko. Snorri schrie. Es waren dieselben Männer – sie hießen Fowler und Brat –, die sie abgeführt hatten, als sie von einer Nachbarin beschuldigt worden war, ihren Kaktus verhext zu haben.
»Loslassen!«, brüllte Nicko und setzte sich heftig zur Wehr. Ein Handgemenge entbrannte. Snorri trat nach Fowler – einem Riesen mit glänzender Glatze, der Nicko den Arm auf den Rücken gedreht hatte. Septimus und Beetle stürzten hinzu, dicht gefolgt von Jenna. Doch Brat, der viel kleiner als sein Kollege, aber überraschend stark war und ein Paar eindrucksvolle Blumenkohlohren aufzuweisen hatte, wischte sie weg wie lästige Fliegen.
Die Hüterin des Hauses stand im Hintergrund, halb verdeckt vom Kerzenrauch, den Arm in der Schlinge. »Bringt ihn in den Kerker«, rief sie. »Ich möchte ihn nie wieder sehen!«
»Keine Sorge, Madam«, lachte Fowler. »Da können Sie ganz beruhigt sein. Uff ... lass das, Junge.« Letzteres war an Beetle gerichtet, dem es gelungen war, ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
Die beiden Wächter schleiften Nicko über die Galerie, begleitet von Snorri, die schrie und nach ihren Schienbeinen trat, und Jenna, die wie eine Klette an ihrem Bruder hing. Beetle hatte Fowler noch immer im Schwitzkasten – wenn auch ohne erkennbare Wirkung –, und Ullr sprang fauchend nebenher.
Nur Septimus hatte sich aus dem Getümmel herausgehalten. Jetzt zog er ein kleines Kristall aus seinem Lehrlingsgürtel, das wie ein Eissplitter aussah. Er nahm es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger und richtete das schmalere Ende auf Fowler, der gerade versuchte, Nicko und seine Eskorte in einen dunklen Gang auf der anderen Seite der Galerie zu zerren.
»Erstarre!«, rief Septimus.
Beetle erstarrte, und mit Entsetzen erkannte Septimus, dass er mit seinem Schnellgefrierzauber den Falschen erwischt hatte. Doch Fowler war aus dem Tritt gekommen, da der erstarrte Beetle wie ein Zentnergewicht an seinem Hals hing, und Nicko nutzte die Gelegenheit. Er riss sich los, packte Snorri, und im nächsten Augenblick rannten beide zur Treppe. Wütend schüttelte Fowler Beetle ab, und Beetle fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. »Beetle!«, schrie Jenna. »Oh, Beetle!«
Nicko stürzte an Septimus vorbei und zog Snorri hinter sich her. »Komm, Sep!«, rief er. »Nichts wie raus hier. Mir reicht’s – es ist mir egal, in welcher Zeit wir landen.«
»Nein, Nicko!«, schrie Septimus. »Tu es nicht!«
Aber Nicko und Snorri rannten bereits die breite, geschwungene Treppe hinunter, und Fowler und Brat waren ihnen dicht auf den Fersen.
Septimus lief zu Jenna. »Du musst Nicko aufhalten«, sagte er zu ihr. »Er dreht durch. Halt ihn auf, sonst ist er für immer verloren.«
»Aber was ist mit Beetle ...«
»Dem geschieht schon nichts. Ich bringe das in Ordnung. Mach schon!«
Jenna rannte los. Sie drängte sich an der Hüterin vorbei, die einen halbherzigen Versuch unternahm, sie festzuhalten, und flitzte die Treppe hinunter.
Septimus ließ den erstarrten Beetle liegen und beugte sich über die Balustrade. Er sah Jenna mit flatterndem roten Mantel die Treppe hinunterfliegen. Weit unten konnte er im Kerzenrauch die verschwommenen Gestalten Nickos und Snorris ausmachen, die gerade die Halle erreichten und sich durch die Menge in Richtung silberne Tür zwängten. Fowler und Brat kamen ihnen rasch näher.
Die Hüterin des Hauses, die seine scheinbare Teilnahmslosigkeit falsch deutete, trat neben ihn. »Wir werden den Unruhestifter bald haben.« Sie lächelte. Septimus antwortete nicht. Plötzlich bekam sie ein mulmiges Gefühl und rückte von ihm weg. Der merkwürdig abwesende Blick seiner Augen gefiel ihr nicht, und noch viel weniger gefiel ihr der eigenartige lila Nebel, der ihn einzuhüllen begann – sie fürchtete, das könnte ansteckend sein.
Unten in der Großen Halle des Foryxhauses hatte Brat seinen Kollegen Fowler inzwischen überholt und war nur noch eine Armlänge hinter Nicko. Er streckte die Hand nach ihm, doch in letzter Sekunde entwischte ihm Nicko, indem er hinter einen großen Mann mit hohem, spitzem Hut huschte. Plötzlich blieb Fowler stehen, sah sich verwirrt um und brüllte: »Du Idiot ... er ist da drüben!« Brat wirbelte herum und sah, wie sein Opfer wieder die Treppe hoch rannte – wie hatte der Bursche das bloß angestellt?
Septimus, der sich oben über die Balustrade lehnte, konzentrierte sich wie noch nie in seinem Leben. Die Projektion eines lebenden Menschen gehörte zu den schwierigsten Projektionen überhaupt. Er arbeitete angestrengt und setzte ungeahnte magische Kräfte frei, doch wie alle Projektionen war auch seine nicht hundertprozentig perfekt. Die Ränder waren unscharf, und immer wieder traten kurze Lücken auf. Zum Glück verbarg der Kerzenrauch alle Unzulänglichkeiten, und Septimus achtete sorgsam darauf, dass die Verfolger dem projizierten Nicko nie so nahe kamen, dass sie etwas merkten. Von seinen eigenen magischen Künsten begeistert, führte Septimus die Projektion jetzt die Treppe hinauf. Als Nickos Spiegelbild näher kam, trat er zurück, um den Abstand zu vergrößern – denn je näher eine Projektion kam, desto schwerer war sie aufrechtzuerhalten. Beifällig nahm die Hüterin zur Kenntnis, dass Septimus nur zusah, wie der junge Rüpel vorbeirannte, und nichts unternahm. Anscheinend hatte sie den Lehrling falsch eingeschätzt. Ihre lange Nase glänzte vor Aufregung, als sie sah, dass ihre Getreuen Fowler und Brat – die mächtig schwitzten und hochrot im Gesicht waren – aufholten. Sie mussten den Burschen jeden Moment erwischen.
Septimus ließ die Projektion in den Turm rennen, in dem Nicko und Snorri gewohnt hatten, dann konnte er durchatmen. Jetzt brauchte er nur noch das Geräusch eiliger Schritte zu projizieren und abzuwarten, bis den Wächtern die Puste ausging. Er spähte nach unten, um festzustellen, ob es Jenna gelungen war, Nicko aufzuhalten, doch der Kerzenrauch behinderte die Sicht. Am liebsten wäre er auf der Stelle nach unten gerannt und hätte Nicko selbst zur Vernunft gebracht, aber er wusste, dass er auf Jenna vertrauen musste. Er hatte etwas zu erledigen, das keinen Aufschub duldete. Er musste Beetle auftauen.
Die Hüterin des Hauses beobachtete, wie Septimus den zittrigen Beetle auf der langen geschwungenen Treppe nach unten führte, und im selben Moment, als der Nebel aus Kerzenrauch die beiden verschluckte, vernahm sie dumpfe Schritte auf der Treppe im Turm. Fowler und Brat kamen zurück. Sie lächelte eine Art Lächeln, wie man es von einem Pferd erwarten würde, das entschlossen ist, seinen Reiter abzuwerfen, und einen niedrigen Ast erspäht hat.
Jenna hatte Nicko und Snorri in der Schachbretthalle eingeholt. »Nicht, Nicko!«, schrie sie. »Geh bitte nicht. Nicht auf eigene Faust, bitte!«
»Hier bleibe ich nicht«, erwiderte Nicko. »Ich will nicht mein ganzes restliches Leben – und noch länger – in einem dreckigen Loch unter der Erde schmoren. Sie haben Snorri dort eine halbe Ewigkeit eingesperrt. Es war furchtbar.«
»Es waren nur ein paar Tage, Nicko«, sagte Snorri.
»Wer weiß schon genau, wie lange es war«, knurrte Nicko. »Dieses Haus bringt einen um den Verstand. Niemand weiß, wie lange etwas dauert – es ist verrückt. Ich halte das nicht mehr aus.« Er fasste nach der Tür, die in die Außenzeit führte, doch Jenna hielt seine Hand fest.
»Nicko! Du musst mir eins versprechen, bitte.«
»Was denn?«
»Dass du auf Sep und Beetle wartest.«
»Falls sie überhaupt noch mal auftauchen. Du verstehst nicht, Jenna. Hier drin geht es nicht mit rechten Dingen zu. Leute verschwinden.«
»Sie werden auftauchen, ganz bestimmt.« Und wie zur Bestätigung flog im nächsten Moment die silberne Tür auf, und Septimus und Beetle stürmten in die Eingangshalle.
»Sie kommen!«, keuchte Septimus. »Meine Projektion ist zusammengebrochen, als ich Beetle aufgetaut habe.«
»Gut, das war’s dann«, sagte Nicko. »Ich gehe.«
»Nicko ... warte noch«, sagte Jenna, löste den Schlüssel zum Königinnengemach von ihrem Gürtel und steckte ihn in das kleine Schlüsselloch, das auf dem rechten Flügel der silbernen Tür in einer Hieroglyphe verborgen war. Kaum hatte sie ihn gedreht, war zu hören, wie sich die Tür verriegelte.
»Das wird sie nicht aufhalten«, sagte Nicko. »Sie hat ebenfalls einen Schlüssel.«
»Doch«, sagte Jenna mit einem Grinsen, »weil ich meinen nämlich im Schloss stecken lasse.«
»Gute Idee«, sagte Septimus und grinste ebenfalls.
Sie saßen in der Schachbretthalle, in der Schwebe zwischen zwei Welten. Wie einst ihre Tante Ells hatte Snorri den Platz auf dem hohen Drachenstuhl erhalten. Ihre Füße ruhten auf dem dicken, zusammengerollten Schwanz, und ihre dünne Gestalt verschwand fast zwischen den geschnitzten Drachenflügeln, welche die Rückenlehne des Stuhls bildeten. Beetle hockte auf der breiten Drachenkopfarmlehne. Er und Snorri sahen angespannt und müde aus.
Jenna, Septimus und Beetle hatten ihre Rucksäcke geholt und saßen, an sie gelehnt, auf dem kalten Marmorfußboden.
Nicko sah sie an und schüttelte verwundert den Kopf. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr hier seid. Ich kann es einfach nicht glauben. Wir haben so lange gewartet, stimmt’s, Snorri?«
Snorri nickte.
»Ich bin einfach nur froh, dass ihr hier wart«, sagte Jenna leise. »Ich hatte so große Angst, dass ihr vielleicht ganz woanders wärt.«
»Viel hat nicht gefehlt«, sagte Nicko. »Wie oft wollte ich schon fort. Die Türen sind offen, und niemand hält einen auf. Aber sie sagen einem, dass man in jeder beliebigen Zeit landen kann. Selbst in einer Zeit ...«, er erschauderte, »... in der es hier noch keine Menschen gab. In der es das Foryxhaus noch nicht gab – und das bedeutet, dass man nie wieder zurückkann. Snorri meinte immer, wir sollten noch warten. Sie hatte recht – aber das hat sie ja immer.« Snorri errötete.
»Ja«, sagte Jenna, die gegenüber Snorri etwas auftaute. »Sie hatte recht.«
Nachdenkliche Stille legte sich über die Schachbretthalle, aber sie war nicht von langer Dauer. Mit einem Mal pochte es laut gegen die Silbertür, und gleich darauf ertönte aufgeregtes Klirren – jemand versuchte, einen Schlüssel ins Schloss zu stecken.
»Es geht nicht«, rief wütend die Stimme der Hüterin. »Wächter, brecht die Tür auf.«
Sofort war Nicko auf den Beinen. »Mich kriegen sie nicht«, sagte er mit wildem Blick. »Lieber gehe ich raus und lasse es darauf ankommen.«
»Ich gehe mit dir«, sagte Snorri und hob Ullr auf. »Und Ullr kommt auch mit.«
»Und wir auch«, sagte Jenna ernst. Sie schaute zu Septimus und Beetle. »Oder?«
Septimus sah Beetle an. »Ich bin dabei«, sagte Beetle.
»Ich auch«, sagte Septimus.
»Wirklich?«, fragte Nicko. »Aber sie sind nur hinter mir her, nicht hinter euch.«
»Wir sitzen jetzt alle in einem Boot, Nicko«, erklärte Septimus. »Was auch geschehen mag.«
An der Tür tat es einen dumpfen Schlag, dem in gleichmäßigem Abstand weitere folgten. Fowler warf sich gegen die Tür. Bald begann das Schloss, der schwächste Punkt der Tür, nachzugeben.
»Ich gehe jetzt«, sagte Nicko, sehr gefasst und bestimmt, legte die Hand auf den schweren Eisenriegel der großen Ebenholztür und sah Jenna, Septimus und Beetle an. »Aber«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, um die rhythmischen Schläge hinter sich zu übertönen, »ich möchte, dass ihr bleibt. Ihr habt noch die Chance, nach Hause zu kommen, Mum und Dad wiederzusehen und ihnen zu sagen, was geschehen ist. Sagt ihnen, dass es mir leidtut...«
Septimus holte tief Luft. »Nein, Nicko. Wir kommen mit.« Er blickte in die Runde. Vier entsetzte Augenpaare erwiderten seinen Blick – soeben war ihnen die Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens bewusst geworden.
Bums.
Nickos Augen verschleierten sich. Er blinzelte. »Also gut«, sagte er. »Gehen wir.«
Bums. Bums.
Nicko wollte gerade den Riegel der Ebenholztür anheben, die in die Außenzeit führte – was immer das sein mochte –, als es so wütend von außen gegen die Tür hämmerte, dass die Schläge hinter ihnen übertönt wurden. Alle zuckten zusammen.
Septimus stieß einen lauten Jauchzer aus. Er kannte nur einen einzigen Menschen, der eine tadellos funktionierende Türglocke ignorierte und einen Türklopfer auf diese Weise malträtierte. Er riss die Tür des Foryxhauses auf.
»Und«, sagte Marcia mit einem breiten Lächeln, »wollt ihr mich nicht hereinbitten?«
»Auf gar keinen Fall«, erwiderte Septimus. »Wir kommen hinaus!«
Von der breiten, geschwungenen Marmorterrasse aus sah Sarah Heap, wie ihre beiden jüngsten Söhne und ihre Tochter in die weiße neblige Luft heraustraten und in Freudenrufe ausbrachen. Sie sah, wie sie Marcia Overstrand um den Hals fielen und sie fast erdrückten, und sie wollte ihren Augen nicht trauen. Sie sank schwer gegen einen festen Drachenhals, und Feuerspei klopfte müde mit seinem Schwanz. Es war ein langer, kalter Flug gewesen.
Das Klopfen des Schwanzes ließ Nicko sich umwenden. »Mum?«, rief er, ohne den Drachen zu beachten, denn er hatte nur Augen für die schmale, windzerzauste Gestalt in dem alten grünen Mantel. »Mum?«
»Oh ... Nicko«, war alles, was Sarah herausbrachte.